Die Tarnung

Mit der Übersiedlung nach Frankfurt begann die von Mama inszenierte Tarnung, das verzweifelte Bemühen, ihre Vergangenheit auszulöschen oder doch wenigstens die Spuren so zu verwischen, daß niemand zurückfand. Der Ortswechsel nach Frankfurt war der erste Schritt. Mama dachte sich einen Plan voller Winkelzüge aus: Die Abmeldung in Offenbach lautete nach Zürich. Dort beschaffte sich Papa eine Aufenthaltsgenehmigung, meldete sich ordnungsgemäß an, blieb vierzehn Tage, und meldete sich wieder ab. Diese Abmeldebescheinigung legte er dann der Frankfurter Polizeibehörde vor, so daß in seiner neuen Anmeldung der Vermerk erschien: »zugezogen aus Zürich«.

Je ruhiger und abgeklärter Papa wurde, um so aktiver war Mama. Papa schien müde zu sein, die Spitzen seines einst nach oben gezwirbelten Schnurrbarts hingen jetzt über die Mundwinkel herunter, sein Gang war schlurfend. Mama dagegen verließ die Rolle der traditionellen jüdischen Unterordnung der Frau, nahm die Zügel der Familie fest in die Hand und bestimmte fortan allein deren Geschick. Dieser Rollenwechsel vollzog sich lautlos. Papa ließ sie gewähren; es hatte den Anschein, als wollte er es gar nicht anders. Auch die Familienplanung nahm Mama in die Hand. Zwanzig Jahre nach der Heirat, 1917, kam meine Schwester Paula zur Welt, 1918 ich und 1923 mein Bruder Alex.

Bei all ihren Vorsichtsmaßnahmen bedachte Mama jedoch nicht, daß in einer so liberalen und weltoffenen Stadt wie Frankfurt, in der Juden und Christen seit Jahrhunderten nebeneinanderlebten, es einmal etwas Lebensgefährliches sein könnte, Jude zu sein. Darum hatte sie auch keine Bedenken, wenn in der Einwohnerkartei bei unserem Namen »Religion: mosaisch« stand.

Trotz Papas revolutionärer Vergangenheit fühlten sich meine Eltern stets dem Judentum verbunden, wenn sie auch nur formell der Israelitischen Gemeinde angehörten, kaum Kontakt mit ihr hatten und vom jüdischen Leben ihrer Elternhäuser nicht viel mehr übriggeblieben war als einige wehmütige Erinnerungen: eine jüdische Mamme; Geborgenheit im großen Familienkreis; ein frommer Vater, der über einem Glas Wein vor dem Sabbatessen das Kiddusch sang, den Segensspruch, und betend das Brot brach; die Erinnerung an Pürinr (Freudenfest zur Errettung der persischen Juden vor dem Tyrannen Haman durch Esther.), das lärmende Fest der Kinder; die nach mosaischem Gesetz unter einer Chupe (: Trau-Baldachin) vollzogene Trauung.

Oft ging Papa mit mir in die reformierte Synagoge in der Freiherr-vom-Stein-Straße. Mama setzte mir schon zu Hause eine Baskenmütze auf, die sie ausschließlich für meinen Synagogenbesuch bereithielt. Papa nahm seinen schwarzen Filzhut, der ebenfalls nur zu diesem frommen Zweck bestimmt war und die übrige Zeit in einer Stoffhülle auf dem oberen Brett im Kleiderschrank lag. Wir gingen meistens an den jüdischen Feiertagen, und selbstverständlich immer an Jom Kippur. Der Besuch der Synagoge an diesem höchsten Feiertag der Juden, an dem man alle Verfehlungen des vergangenen Jahres bereut, einen ganzen Tag lang betet und dann wieder makellos dasteht vor Gott, war etwas ganz Besonderes für mich. Papa nahm mich unterwegs bei der Hand, was er sonst nur selten tat, und hielt mich die ganze Zeit fest. Er erklärte mir die Bedeutung von Rosch Ha-Schana, dem Neujahrsfest, und Jom Kippur, dem Versöhnungstag, und den dazwischenliegenden zehn Bußtagen, und erzählte mir, wie sie diese hohen Feiertage zu Hause in Rußland begangen hätten. Dann sprach er von der Merkwürdigkeit des Versöhnungstages und war gar nicht damit einverstanden, daß man an einem einzigen Tag ungeschehen mache, was man an den andern dreihundertvierundsechzig Tagen des Jahres gesündigt habe. Er sagte, die Talmudgelehrten würden zwar eine solche Auslegung des Sühnungstages ablehnen und davon reden, man könne den göttlichen Richter nicht betrügen, aber sie würden dennoch akzeptieren, wie man es in der ganzen jüdischen Welt praktiziere, daß ein Zerknirschungstag zur Tilgung eines ganzen Sündenjahres genüge. Das sei nicht gut, sagte er, und ich gab Papa recht.

Dazu muß man wissen, daß an Jom Kippur alle Juden, ob sie fromm sind oder nicht, in die Synagoge gehen, um die Sünden der Vergangenheit zu bereuen. Die Bußfertigen werden dafür reichlich belohnt, indem sie aus dem großen Buch Gottes gelöscht werden, in welchem alle Verfehlungen eingetragen sind, die jeder einzelne im Laufe des letzten Jahres begangen hat und für die er sonst nach seinem Tode von Gott zur Rechenschaft gezogen würde. Nimmt ein Jude diese Gelegenheit nicht wahr, dann sind seine Sünden, wenn die Sonne versinkt und sich das große Buch wieder schließt, für ein weiteres Jahr festgeschrieben.

Kein Wunder, meinte Papa, daß an diesem Tag die Synagogen brechend voll sind. Wer schon möchte sich diese einmalige Gelegenheit entgehen lassen, die miesen Eintragungen für ein ganzes Jahr zu löschen, indem er einige Stunden betet, bereut, Zerknirschung zeigt und dann wieder ein guter Mensch ist. Er bezweifelte, daß Gott so ungerecht sein sollte; aber da Papa offenbar nicht ganz sicher war, ob Gott nicht doch Buch über alle Sünden führt und an Jom Kippur tatsächlich den Bußfertigen Absolution gewährt, ging er jedes Jahr wieder mit mir in die Synagoge, manchmal schon am Vorabend, dem Beginn des hohen Feiertags, wenn zur Einleitung das Kol Nidre (»Alle Gelübde«, die Anfangsworte des Gebets, das am Vorabend des Versöhnungstags (Jom Kippur) den Gottesdienst in der Synagoge einleitet) gesungen wurde.

Dann stand ich eingekeilt in der betenden Menge irgendwo im hinteren Teil des Gotteshauses, fast an der Wand - Papa und ich, wir standen immer - und ich sah nichts weiter als die schwarzen Jacken der vor mir Stehenden; Papa war hinter mir und hatte die Hände auf meine Schultern gelegt. Ich hörte den monotonen Singsang der Betenden, gelegentlich die Einzelstimme des Vorbeters, bemerkte, wie sich die rhythmischen Bewegungen der Beter in der Mitte, die ich nicht sehen konnte, manchmal bis in die letzten Reihen der stehenden Beter fortsetzten. Obwohl ich weder etwas sehen konnte noch etwas von den Gebeten verstand und obwohl wir immerhin einige Stunden in der Synagoge verbrachten, wurde es mir keine Minute langweilig, das gemeinsame Beten zog auch mich in seinen Bann.

Und weil Jom Kippur nicht nur der Tag der Versöhnung mit Gott, sondern auch mit allen Menschen ist, gab es da ein endloses Händeschütteln schon auf dem Weg zur Synagoge und erst recht später auf dem Nachhauseweg, jeder wünschte jedem das Beste und Schalom und Vergessen-wir-das. Und wir Kinder machten uns einen Spaß daraus und spielten auch Versöhnung.

Ich empfand, daß meine Eltern dieses Ritual nicht nur einfach mitmachten, weil sie sich dem in ihrem jüdischen Freundeskreis nicht entziehen konnten - es war vielmehr ihre mosaische Tradition, in die sie immer wieder zurückkehrten. Sie konnten gar nicht anders. Die Witze und Majsses (:Geschichten), die Papa vorher und nachher über den Versöhnungstag erzählte, sollten zwar zeigen, wie wenig ernst er diese religiösen Bräuche nahm, machten aber in Wirklichkeit nur die Bindung an die jüdische Religion deutlich.

Wenn Mama an der Nähmaschine saß und eine Bluse oder ein Kleid für fremde Leute nähte, kam es vor, daß sie mich zu sich rief und mir etwas aus der Geschichte des jüdischen Volkes erzählte, zum Beispiel über die Befreiung der persischen Juden durch Esther und Mordechai, oder vom Kampf der Zeloten gegen die Römer im Jüdischen Krieg, oder auch nur Einzelheiten aus ihrem Elternhaus. Sie war es auch, nicht Papa, die mir eines Tages berichtete, daß die Rabisanowitschs Cohenim (: »Priester«, der Name von jüdischen Familien, die ihren Stammbaum auf das alttestamentarische Priestergeschlecht der Ahronssöhne zurückführen.) waren und in der väterlichen Linie viele in Südrußland bekannte Rabbiner hervorgebracht hätten. Auch mein Großvater, erzählte sie, habe das Rabbinerseminar besucht. Den Grund aber, warum er kein Rabbiner, sondern nur ein Getreidehändler geworden war, sagte sie mir nicht.

Einigen Andeutungen Papas habe ich entnommen, daß mein Großvater, den ich leider nie gekannt habe, offenbar die angenehmen Seiten des Lebens sehr zu schätzen wußte. Er war ein gutaussehender Mann - ich konnte mich anhand einer erhalten gebliebenen Daguerreotypie davon überzeugen -, der gern den Rubel rollen ließ und die Frauen und das Nichtstun mehr liebte als das Studium. Diese Lebensführung des Rabbinatsschülers Rabisanowitsch vertrug sich nicht mit den Gesetzen rabbinischer Tugend, und er mußte darauf verzichten, einmal das geistliche Oberhaupt einer jüdischen Gemeinde zu werden.

Mama sagte, daß es eine Ehre sei, zu einer Cohen-Familie zu gehören. Das zu wissen tat mir wohl und hob mich ein wenig aus dem Nichts unserer Hinterhofexistenz heraus. Leider machte sich Papa gar nichts aus dieser Ehre. Er meinte mit einem Augenzwinkern, mittlerweile gebe es bei den Juden so viele Cohenim wie Jesus-Reliquien bei den Christen.

 

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